"Girl, you should smile more!"
Partizipatives Videoprojekt, aus dem Schreiarchiv 2019/2020/2021
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Der Schrei ist, so definiert ihn der Duden, ein „unartikuliert ausgestoßener, oft schriller Laut eines Lebewesens“, bei Menschen oft „durch eine Emotion ausgelöst“. Sein Artikel ist männlich: DER Schrei. Und das passt in unsere Gesellschaft, denn meist sind es auch Männer, die Gebrauch machen von diesem unkontrollierten, unartigen, unangepassten Laut.
Eine Ausnahme gibt es: Frauen schreien wahrscheinlich öfter aus Angst als Männer. Statistisch gesehen zumindest liegt das nahe, denn sie werden weit häufiger Opfer von Gewaltverbrechen. Wenn Menschen aber nicht aus Furcht schreien, dann schreien sie, weil sie zornig sind, weil ihnen etwas nicht passt. Sie zeigen Präsenz. Lisa Maria Baier findet: Frauen sollten das viel öfter tun – und dafür sorgt sie jetzt. Am diesjährigen Weltfrauentag wird die 31-jährige Künstlerin Videos von schreienden Frauen an Hausfassaden in Dresden projizieren.
„Frauen wird immer vorgeschrieben, dass sie lieb sein sollen, lächelnd, sozial. Das wollte ich aufbrechen“, erzählt Lisa. Erst dachte sie im Gespräch mit anderen Frauen kurz über eine Schweigeminute zum Frauentag nach, verwarf die Idee aber sofort wieder. „Denn die würde die Frauen ja stumm machen. Das wäre das Schlimmste, was passieren könnte“, sagt Lisa, und sie klingt entsetzt, als sie das sagt.
Die schreienden Frauen strahlen Kraft aus – und wirken befreit
Deswegen gibt es jetzt das Gegenteil: Lärm. Schon vergangenes Jahr organisierte sie in Dresden zum Weltfrauentag eine Schreiminute, die so viele Frauen begeisterte, dass Lisa das Projekt weiterdachte. Seit Monaten sammelt sie Videos von Frauen, die in eine Kamera schreien, mehr als hundert Stück hat sie schon bekommen, unter anderem auch aus Ungarn und Italien. Aus diesen Schnipseln wird ein langer Clip, länger als 30 Minuten wohl. Am 8. März wird er in Dresden an verschiedenen Orten gezeigt werden, unter anderem projiziert an Hausfassaden in der Martin-Luther-Straße in der Dresdner Neustadt, einem vor allem bei jungen Menschen beliebten Viertel voller Cafés und Leben.
Die Frauen, die Lisa ihre Videos zugeschickt haben, schreien alle frontal in die Kamera. Ihre Schreie sind so individuell wie sie selbst: mal tief und kehlig, mal fast verzweifelt und durchdringend, mal ganz hoch, fast einem gesungenen Ton ähnelnd, mal mit Zornesfalten um die Augen. Eine Freundin von Lisa schreit zwölf Sekunden lang. Eines haben sie aber gemeinsam: Sie strahlen Kraft aus. Und wirken befreit.
Viele Männer verstehen den Sinn des Projekts nicht
„Jede Frau, mit der ich ein Video gemacht habe, hat mir vorher erzählt, wieso sie mitmacht. Es wäre zu intim, das hier zu erzählen. Aber den meisten von ihnen wurde lange eingebläut: Sei doch lieber still, sei doch lieber nett, sei doch lieber unkompliziert, denn damit kommen alle besser klar“, sagt Lisa. Das sei im Arbeitsalltag so, im Familienkreis, mit Kindern. Doch jeder Mensch habe das Recht, mal schlecht gelaunt zu sein und nicht zu funktionieren. Dabei will Lisa zumindest ein bisschen helfen. Sie erzählt, wie dankbar viele Frauen nach dem Dreh sind, wie erleichtert. Denn viele kostet es Überwindung, einfach loszuschreien.
Ein Zeichen dafür, wie notwendig es für Frauen sein könnte, öfter zu schreien, könnte übrigens auch die Reaktion der Männer sein, von der Lisa erzählt: „Viele Männer verstehen mein Projekt nicht, sie kapieren nicht, warum Frauen schreien sollten, warum das nötig ist.“ Dieses Unverständnis sage viel aus. „Männer und Frauen sind in unserer Gesellschaft so unterschiedlich sozialisiert. Ich wohne in der Innenstadt und wenn ich mein Fenster aufmache, dann höre ich meistens nur Männer schreien, grölen und brüllen.“